Lectura 18 Verfremdungseffekt
Brecht Theater
Excurso
fonético : Im »Deutschen Wörterbuch« stellten die Brüder Grimm fest, dass
‹F› und ‹V› bereits im 16. Jahrhundert keinen lautlichen Unterschied aufwiesen,
was auch daran zu erkennen ist, dass Wörter mit demselben Stamm mit unterschiedlichen Initialen geschrieben werden,
z. B. voll und Fülle. Ihren
Ausführungen zufolge sind Versuche, die beiden Buchstaben auch lautlich zu
trennen, gescheitert, da es in der Volkssprache keinen Unterschied zwischen
ihnen gibt.
Auch
heute wird im Internationalen Phonetischen Alphabet (IPA) lediglich von den
zwei Lauten [f] und [v] ausgegangen, wobei letzterer wie in Wald oder wieder
gesprochen wird. Zwar gibt es im IPA den Laut [w], dieser
steht allerdings für die englische Aussprache des ‹W›, wie in what
oder weather.
Die beiden Laute [f] und [v] werden daher im Deutschen durch die drei
Buchstaben ‹F›, ‹V› und ‹W› repräsentiert. Obwohl es oft keinen lautlichen
Unterschied gibt, ist das ‹V› im Alphabet dennoch unabdingbar, z. B. wenn es um
die Unterscheidung der Wörter viel und fiel geht:
Aufgrund des fehlenden lautlichen Unterschieds ist allein der graphische
Unterschied zwischen dem ‹V› und dem ‹F› für die Bedeutung der beiden Wörter
verantwortlich. [fiel =
pasado simple de fallen ].
Der Verfremdungseffekt besteht
im Kern darin, dem Betrachter vertraute Dinge in einem neuen Licht erscheinen
zu lassen und so Widersprüche in der Realität sichtbar zu machen und eine
kritischere und bewusstere Wahrnehmung des Gezeigten zu ermöglichen.
Der Zuschauer des dramatischen
Theaters sagt: Ja, das
habe ich auch schon gefühlt. - So bin ich. - Das ist nur natürlich. - Das wird
immer so sein. - Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen
Ausweg für ihn gibt. - Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. -
Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden.
Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. - So darf man es nicht machen. - Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. - Das muß aufhören. - Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. - Das ist große Kunst: da ist nichts selbstverständlich. - Ich lache über den Weinenden, ich weine über den Lachenden. (Brecht 1929)
Modelo de escenario para "Mutter Courage"
Verfremdung
„Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst
einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte,
Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.”
(B. Brecht: Das Prinzip der Verfremdung. In: Schriften zum
Theater I)
Der von Brecht gebrauchte Begriff des Verfremdungseffektes bezieht sich auf das epische Theater. Er bezeichnet dabei einen Darstellungsstil der kritischen Distanzierung, d.h. das „Vorzeigen" einer Rolle anstatt illusionistischen Spielens. Brecht verwendet den Verfremdungseffekt, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer vom Ablauf des Geschehens auf die Sinngebung des Geschehens zu lenken. Gleichzeitig werden sie in die Lage versetzt, das Verhalten der einzelnen Figuren mit einem gewissen Abstand kritisch zu beobachten und zu bewerten. Schließlich bringt der Verfremdungseffekt allgemein kulturelle und politische und nicht ausschließlich künstlerische Aspeke mit sich. Die Aufgabe des Verfremdungseffektes liegt darin, eine unüberlegte oder unterdrückte Alternative zu zeigen und auf die Möglichkeit zum Verändern indirekt durch Widersprüche und Unterschiede aufmerksam zu machen.
Mittel der Verfremdung in der
Theaterpraxis
- Figur des
epischen Erzählers
- direkte
Zuschaueransprache (Sprechen ad spectatores)
- Inhaltsangaben
vor der Szene (von einem Schauspieler gesprochen, auf Tafeln oder
Spruchbändern bzw. durch Projektionen eingeblendet)
- Kommentar durch
Erzähler oder Songs
- oft kein
Vorhang, Theatermaschinerie ist sichtbar, Umbauten auf offener Bühne
- neue Schauspielmethode:
keine Identifikation mit der Figur, der Schauspieler spielt die Rolle,
aber tritt auch manchmal aus ihr heraus
- die Rolle/Figur
”zeigen”, nicht ”sein”
- der Schauspieler
hat Abstand/Distanz zu seiner Rolle, identifiziert sich nicht mit der Figur
- oft Gebrauch von
Masken, sparsamer Gebrauch von Kulissen
Ziel: Verhinderung von Identifikation.
Beispiel: Das bekannte Sprichwort „Der Mensch denkt, Gott lenkt.”
verfremdet Brecht zu „Der Mensch denkt: Gott lenkt. / Keine Red davon!”
Escena de "Mutter Courage" según modelo brechtiano
·
Die Handlung wird z. B. durch Kommentare unterbrochen.
Figuren treten aus der Rolle und wenden sich an das Publikum, um über das
Geschehene zu diskutieren.
·
Es werden alternative Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, die den
Protagonisten unter anderen Umständen offengestanden hätten. Damit „ist gewonnen, daß der Zuschauer
die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unveränderbare, unbeeinflußbare,
ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: dieser
Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die
Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht
nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und
auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind.“ (Bertolt Brecht)
·
Stilisierte Sprache: Es wird zum Teil in Versen gesprochen.
Manchmal werden den einzelnen Szenen auch Spruchbänder vorangestellt (z.B. in Leben
des Galilei), in denen die Handlung vorweggenommen wird. Ziel dessen ist
es, die Aufmerksamkeit des Zuschauers nicht auf den Verlauf des Stückes,
sondern auf die Art und Weise, mit der die Handlung vorangetrieben wird, zu
lenken.
·
Die
Bühnengestaltung ist oft sparsam, es werden wenige Requisiten eingesetzt. Häufig
werden anstelle von zeitgemäßen Kostümen Straßenkleider verwendet.
·
Die Schauspieler selbst müssen eine gewisse Distanz zu ihrer
Rolle wahren, damit der Zuschauer die Protagonisten nicht als
Identifikationsfiguren wahrnehmen kann. Damit wird eine einseitige
Beeinflussung des Zuschauers vermieden, der Weg bzw. die Beweggründe des
Protagonisten können vom Zuschauer kritisch betrachtet werden.
·
Die Figuren haben oft gleichnishaften Charakter, sind „Niemand“-
oder „Jedermann“-Gestalten, die beliebig austauschbar sind und exemplarischen
Verhaltensweisen folgen. Es werden kaum Emotionen erregt, das epische Theater
untersucht sie lediglich von außen.
·
Der Zuschauer wird mit den zeitgenössischen,
gesellschaftspolitischen Problemen konfrontiert, die meistens die Ursache für
das Handeln der einzelnen Figuren sind. Dadurch soll der Zuschauer „aktiviert“
werden, d.h. zum Eingreifen in Politik und Gesellschaft aufgefordert werden.
·
Die Erzählweise verläuft in Kurven, ist also nicht linear oder
chronologisch.
Andere Mittel sind außerdem die
Einbeziehung eines Chores als Kommentator (siehe aristotelisches Drama), die Verwendung von Schildern, Songs (bzw. Liedern) sowie
neuen Medien (Projektionen, Diashows, kurze Filmsequenzen, etc.). Auch das
Verwenden von Dialekten kann als V-Effekt verstanden werden.
Bertolt Brecht (1898-1956), Über experimentelles Theater (1939) und « Einfühlung »
[...]
Die Einfühlung ist das große Kunstmittel einer Epoche, in der der Mensch die
Variable, seine Umwelt die Konstante ist. Einfühlen kann man sich nur in den
Menschen, der seines Schicksals Sterne in der eigenen Brust trägt, ungleich
uns.
Es ist nicht schwer, einzusehen, daß das Aufgeben der Einfühlung für das Theater eine riesige Entscheidung, vielleicht das größte aller denkbaren Experimente bedeuten würde.
Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben, entsetzt, ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht, aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden. All dies ist so selbstverständlich, daß die Kunst geradezu damit definiert wird, daß sie befreit, mitreißt, erhebt und so weiter. Sie ist gar keine Kunst, wenn sie das nicht tut.
Die Frage lautete also: Ist Kunstgenuß überhaupt möglich ohne Einfühlung oder jedenfalls auf einer andern Basis als der Einfühlung?
Es ist nicht schwer, einzusehen, daß das Aufgeben der Einfühlung für das Theater eine riesige Entscheidung, vielleicht das größte aller denkbaren Experimente bedeuten würde.
Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben, entsetzt, ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht, aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden. All dies ist so selbstverständlich, daß die Kunst geradezu damit definiert wird, daß sie befreit, mitreißt, erhebt und so weiter. Sie ist gar keine Kunst, wenn sie das nicht tut.
Die Frage lautete also: Ist Kunstgenuß überhaupt möglich ohne Einfühlung oder jedenfalls auf einer andern Basis als der Einfühlung?
Was konnte an die Stelle von Furcht
und Mitleid gesetzt
werden, des klassischen Zwiegespanns zur Herbeiführung der aristotelischen Katharsis? Wenn man auf
die Hypnose verzichtete, an was konnte man appellieren? Welche Haltung sollte
der Zuhörer einnehmen in den neuen Theatern, wenn ihm die traumbefangene,
passive, in das Schicksal ergebene Haltung verwehrt wurde? Er sollte nicht mehr
aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr gekidnappt werden;
im Gegenteil sollte er in seine reale Welt eingeführt werden, mit wachen
Sinnen. War es möglich, etwa anstelle der Furcht vor dem Schicksal die
Wissensbegierde zu setzen, anstelle des Mitleids die Hilfsbereitschaft? Konnte
man damit einen neuen Kontakt schaffen zwischen Bühne und Zuschauer, konnte das
eine neue Basis für den Kunstgenuß abgeben?
Das Prinzip besteht darin, anstelle der Einfühlung die Verfremdung herbeizuführen.
Das Prinzip besteht darin, anstelle der Einfühlung die Verfremdung herbeizuführen.
Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben,
entsetzt, ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht,
aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden. All dies
ist so selbstverständlich, daß die Kunst geradezu damit definiert wird, daß sie
befreit, mitreißt, erhebt und so weiter. Sie ist gar keine Kunst, wenn sie das
nicht tut.
Die Frage lautete also: Ist Kunstgenuß überhaupt möglich ohne
Einfühlung oder jedenfalls auf einer andern Basis als der Einfühlung?
Was ist Verfremdung?
Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. Nehmen wir wieder den Zorn des Lear über die Undankbarkeit seiner Töchter). Vermittels der Einfühlungstechnik kann der Schauspieler diesen Zorn so darstellen, daß der Zuschauer ihn für die natürlichste Sache der Welt ansieht, daß er sich gar nicht vorstellen kann, wie Lear nicht zornig werden könnte, daß er mit Lear völlig solidarisch ist, ganz und gar mit ihm mitfühlt, selber in Zorn verfällt. Vermittels der Verfremdungstechnik hingegen stellt der Schauspieler diesen Learschen Zorn so dar, daß der Zuschauer über ihn staunen kann, daß er sich noch andere Reaktionen des Lear vorstellen kann als gerade die des Zornes. Die Haltung des Lear wird verfremdet, das heißt, sie wird als eigentümlich, auffallend, bemerkenswert dargestellt, als gesellschaftliches Phänomen, das nicht selbstverständlich ist. Dieser Zorn ist menschlich, aber nicht allgemein menschlich, es gibt Menschen, die ihn nicht empfänden. Nicht bei allen Menschen und nicht zu allen Zeiten müssen die Erfahrungen, die Lear macht, Zorn auslösen. Zorn mag eine ewig mögliche Reaktion der Menschen sein, aber dieser Zorn, der Zorn, der sich so äußert und seine solche Ursache hat, ist zeitgebunden. Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden.
Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. Nehmen wir wieder den Zorn des Lear über die Undankbarkeit seiner Töchter). Vermittels der Einfühlungstechnik kann der Schauspieler diesen Zorn so darstellen, daß der Zuschauer ihn für die natürlichste Sache der Welt ansieht, daß er sich gar nicht vorstellen kann, wie Lear nicht zornig werden könnte, daß er mit Lear völlig solidarisch ist, ganz und gar mit ihm mitfühlt, selber in Zorn verfällt. Vermittels der Verfremdungstechnik hingegen stellt der Schauspieler diesen Learschen Zorn so dar, daß der Zuschauer über ihn staunen kann, daß er sich noch andere Reaktionen des Lear vorstellen kann als gerade die des Zornes. Die Haltung des Lear wird verfremdet, das heißt, sie wird als eigentümlich, auffallend, bemerkenswert dargestellt, als gesellschaftliches Phänomen, das nicht selbstverständlich ist. Dieser Zorn ist menschlich, aber nicht allgemein menschlich, es gibt Menschen, die ihn nicht empfänden. Nicht bei allen Menschen und nicht zu allen Zeiten müssen die Erfahrungen, die Lear macht, Zorn auslösen. Zorn mag eine ewig mögliche Reaktion der Menschen sein, aber dieser Zorn, der Zorn, der sich so äußert und seine solche Ursache hat, ist zeitgebunden. Verfremden heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden.
Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf
der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal
hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: dieser Mensch ist so und so,
weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil
der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist,
sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind
anders vorstellbar, als sie sind. Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer im
Theater eine neue Haltung bekommt. Er bekommt den Abbildern der Menschenwelt
auf der Bühne gegenüber jetzt dieselbe Haltung, die er als Mensch dieses
Jahrhunderts der Natur gegenüber hat. Er wird auch im Theater empfangen als der
große Änderer, der in die Naturprozesse und die gesellschaftlichen Prozesse
einzugreifen vermag, der die Welt nicht mehr nur hinnimmt, sondern sie
meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit
Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem
Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff.
[...]
Ende des
Lesestücks 18
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