Freitag, 29. Dezember 2017

Lectura 53 - Blatt im Wind




Mascha Keléko
Blatt im Wind

Lass mich das Pochen deines Herzens spüren,
Dass ich nicht höre, wie das meine schlägt.
Tu vor mir auf all die geheimen Türen,
Da sich ein Riegel vor die meinen legt.

Ich kann es, Liebster, nicht im Wort bekennen,
Und meine Tränen bleiben ungeweint,
Die Macht, die uns von Anbeginn vereint,
Wird uns am letzten aller Tage trennen.

All meinen Schmerz ertränke ich in Küssen.
All mein Geheimnis trag ich wie ein Kind.
Ich bin ein Blatt, zu früh vom Baum gerissen.

Ob alle Liebenden so einsam sind?
Mascha Keléko
Leaf in the wind

Let me feel your heartbeat,
So that I can’t hear how mine is beating.
Open before me all the secret doors,
Because a bolt is closing mine.

I cannot, my beloved, confess it with words,
And my tears remain uncried,
The power, that unites us from the beginning,
Will separate us on the last day of all.

All my pain I drown in kisses.
All my secret I carry like a child.
I am a leaf, torn off the tree too early.

Are all lovers this lonely?

Hör auch das Gedicht BLATT IM WIND in https://learngermanwithg.wordpress.com/2017/03/22/poem-blatt-im-wind-mascha-kaleko 

* 07.06.1907, Chrzanów, Polen
† 21.01.1975, Zürich, Schweiz


Die aus einer russisch-jüdischen Familie stammende Mascha Kaléko (geborene Golda Malka Aufen) verlebt ihre Kindheit in Marburg/Lahn und Berlin. Neben einer Sekretärinnenausbildung und Büroarbeit für die Jüdische Gemeinde besucht sie Abendkurse in Philosophie und Psychologie u.a. an der Humboldt-Universität.

Ab 1930 veröffentlicht sie, gefördert von dem Kritiker Monty Jacobs, nach ersten Publikationen in der "Vossischen Zeitung" regelmäßig Gedichte im "Berliner Tagblatt", der "Welt am Montag" und anderen Berliner Tageszeitungen.
Kaléko schreibt neben Gedichten Lieder und Chansons, die von ihr selbst, von Claire Waldoff, Rosa Valetti, Annemarie Hase und Tatjana Sais im Radio und in Kabaretts vorgetragen werden. Ende der zwanziger Jahre steht sie in Kontakt mit der künstlerischen Avangarde Berlins, die sich im "Romanischen Café" trifft. Hier verkehrt sie mit Malern, Schauspielern und Literaten wie Else Lasker-Schüler, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz.

Nach Angriffen durch die Nazi-Presse und ihrem Ausschluß aus der Reichsschrifttumskammer (August 1935) emigriert Kaléko schließlich 1938 mit ihrem zweiten Mann, dem Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver, nach New York. Dort verfasst sie, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, u.a. Werbetexte für Toilettenartikel und Unterwäsche. Neben Dolmetschertätigkeiten für Vinaver, der weiter dirigiert und komponiert, bleibt ihr wenig Zeit für eigene Produktionen.

Erst 1945 erscheinen im Schoenhof-Verlag, Cambridge, Massachusetts, ihre "Verse für die Zeitgenossen". Eine Lizenzausgabe kommt in Deutschland als erste Veröffentlichung nach dem Krieg erst 1958 bei Rowohlt heraus. Sie beschert ihr das lang ersehnte Comeback. Ihre Bücher werden wieder aufgelegt, sie wird zu Lesereisen und Rundfunkinterviews eingeladen.


Nach zwei Europareisen in der zweiten Hälfte der 50er Jahre übersiedeln Vinaver und Kaléko 1960 nach Israel. Während dies für die Arbeit ihres Mannes eine bedeutende Rolle spielt, lebt Kaléko wie eine Touristin in Jerusalem. Krank und kraftlos, lernt sie nur wenig Hebräisch und bleibt weitgehend isoliert.

1968 stirbt überraschend Kalékos Sohn Evjatar, 1973 ihr Mann. Sie schreibt in der Folge eine große Zahl von Gedichten, die erst posthum veröffentlicht werden. 1975 stirbt Mascha Kaléko auf ihrer letzten Europareise in Zürich an Magenkrebs.

Heimweh, wonach ?

Wenn ich « Heimweh » sage,
sag ich « Traum ».
Denn die alte Heimat gibt es kaum.
Wenn ich Heimweh sage,
mein ich viel :
Was uns lange drückte im Exil.
Fremde sind wir nun im Heimatort.
Nur das “Weh”, es blieb.
Das “Heim” ist fort.


Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang.

Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.

Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind ?

Allein im Nebel tast ich todenlang

Und lass mich willig in das Dunkel treiben.

Das gehen schmerzt nicht  halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr,_

 Und die es trugen, mögen mir vergeben.

Bedenkt : den eignen Tod, den stirbt man nur,

Doch mit dem Tod der andern muss man leben.

                                                                                    Mascha Kaléko